Vor ihm steht der Rollator, auf dem Tisch ein elektronisches Lesegerät. „Ich habe das Leben nicht satt, aber es ist so langweilig“, sagt Gerhard Michel. Der 95-Jährige, geboren am 22. April 1923, kann seine Wohnung nicht mehr verlassen, die Beine tragen ihn nur noch von der Küche über den schmalen Flur in die Stube oder ins Schlafzimmer. Er kennt jeden Millimeter dieser Räume, jede Schwelle, jeden Laut. Seit 92 Jahren wohnt er hier – Bahnhofstraße 25, erster Stock links. „Mich holt der Teufel einfach nicht“, sagt er.
1926 bekamen seine Eltern die neue Wohnung zugewiesen, zahlten 19,10 Mark Miete. Als Kind sei er von der Bahnhofstraße oft hochgegangen zur Knopffabrik, zu den Püschners, und habe mit den Kindern Harald und Eberhard gespielt. „Ich überweise heute für dieselbe Wohnung jeden Monat 485 Euro Miete“, sagt Michel. „Immerhin gibt es eine Heizung, früher stand in der Ecke ein wunderschöner Kachelofen, aber ich könnte die Kohlen nicht mehr schleppen.“ Die Nachbarin von unten kommt jeden Tag, sieht nach ihm, erinnert an die Augentropfen. Mittags bringt ein Lieferdienst das Essen, danach legt er sich hin, ein Schläfchen muss sein. Nachmittags löst er drei Kreuzworträtsel. „Nach dem Abendbrot geht’s sofort ins Neste.“
Gerhard Michel diktierte vor ein paar Wochen seinen Lebenslauf. Jetzt steht der auf fünf DIN-A4-Seiten mit vier Anlagen. Anlage 1: Zugehörigkeit zu Parteien und Massenorganisationen. Am 1.12.1945 trat er in die SPD ein. Sein Vater, Augustin Michel, hatte ihm dazu geraten. Er arbeitete als Werkzeugschlosser bei Klingers in der Maschinenfabrik, war Stadtverordneten-Vorsteher.
Gerhard Michel schreibt in seinem Lebenslauf: „Ich verlebte eine glückliche Kindheit, meine lieben Eltern waren immer für mich da. Sie haben mir solche Werte wie Ehrlichkeit, Höflichkeit, Bescheidenheit und Dankbarkeit vermittelt, deshalb sah ich es als meine Pflicht an, ihnen in ihrem Alter volle Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Ich habe mich ständig um sie gekümmert, unterstützte, wenn es erforderlich war, meinen Vater bei Gartenarbeiten und meine Mutter bei ihrer Heimarbeit.“ In dem Lebenslauf steht auch, dass Gerhard Michel von 1929 bis 1937 die Volksschule Stolpen besuchte. Die befand sich damals auf der Schulstraße, ist heute ein Mietshaus. Ab 1937 absolvierte er in der Landmaschinenfabrik C. A. Klinger und der Verbandsberufsschule eine kaufmännische Lehre, arbeitete dort zwei Jahre lang als Expedient, zeichnete verantwortlich für den Versand des Frachtgutes. „Am 14. April 1942 wurde ich zum Heeresdienst einberufen und ließ mich zum Funker ausbilden“, sagt Michel.
Er erzählt von der Besetzung Frankreichs, wo er in Brouckerque und Gravelines stationiert war, erzählt vom Transport nach Djatschkino. „Das liegt in der UdSSR“, sagt er. „Ich wurde krank, kam ins Lazarett. Das hat mir das Leben gerettet.“ Von 1943 bis 1945 habe er als Ausbilder im Funkwesen der HJ-Nachrichten-Einheiten gedient, kam am Ende des Krieges mit der Panzerdivision auf die Seelower Höhen, landete in amerikanischer, später in englischer Kriegsgefangenschaft. „Im Lager arbeitete ich beim Telegrafenbau-Regiment ,Merkel’, später in der Lagerküche und der Landwirtschaft.“
Am 18. November 1945 stand er wieder vor der Wohnung seiner Eltern in Stolpen, Bahnhofstraße 25, erster Stock links. Die beiden Püschner-Jungs Harald und Eberhard kamen nicht zurück. „Die sind im Krieg gefallen. Feine Jungs waren das“, sagt Gerhard Michel.
Bei Klingers in der Maschinenfabrik wollte er wieder anfangen, aber die hatte zu der Zeit keinen freien Arbeitsplatz, also begann er im Dezember 1945 als Verwaltungsangestellter in der Stadtverwaltung. „Die haben nur gefragt, ob ich der Sohn vom Michel Augustin bin. Da sagte ich ,Ja’ und sie stellten mich sofort ein.“ 1946 wählten ihn die Stolpner zum Stadtverordneten. „Diese Funktion übte ich bis zum 11. Dezember 1989 aus“, sagt der Mann in der Stube, und ihm huscht ein Lächeln über die Lippen. 38 Jahre lang lief er morgens zum Rathaus auf dem Marktplatz, nur zwischendurch, von 1953 bis 1958, ging er zum Jugendheim „Geschwister Scholl“, das er leitete. Sein Arbeitgeber hieß damals FDJ-Kreisleitung. Wenn er jetzt erzählt, dass er sich damals um die Stolpner Jugend kümmerte, dann klingt das wie die Geschichte aus einem kleinen Freizeitpark mit Schach- und Funkzirkel, Laienspiel- und Singegruppe, Tanzabenden, Vorträgen und Wettbewerben in Tischtennis. Oft seien sie abends noch zusammen gewesen, er habe manchmal Mundharmonika gespielt. Und weil es so gut gelaufen war im Jugendheim, habe er von der Regierung der DDR 1955 ein Fernsehgerät „Rubens“ geschenkt bekommen. Michel berichtet, wie sie eine Baracke als Wanderquartier mit 30 Plätzen bauten, wie sie am Wochenende durch die Sächsische Schweiz gewandert seien und Landwirte bei der Ernte unterstützten.
Inzwischen gehörte Gerhard Michel der SED an, war Mitglied der FDJ, des FDGB (Gewerkschaftsbund), im Kulturbund, der DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft), des DTSB (Sportbund), der GST (Gesellschaft für Sport und Technik), der Konsumgenossenschaft, der Volkssolidarität, der VdGB (Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe) und er leistete regelmäßig Stunden als Helfer der Volkspolizei. Das steht alles in Anlage 2 seines Lebenslaufes und dokumentiert eine DDR-Karriere nach Plan.
So begann er 1958 als hauptamtlicher 2. Bürgermeister der Stadt Stolpen und am 1. September 1975 als 1. Bürgermeister. „Diese Tätigkeit habe ich uneigennützig und zum Wohle der Bürger meiner Heimatstadt bis zum 31. Mai 1984 ausgeführt“, schreibt der Rentner in seinem Lebenslauf.
In Anlage 3 verzeichnete Gerhard Michel 45 Auszeichnungen, die er im Laufe seines Lebens bekam, darunter zum Beispiel 1950 die Ehrung für „Gutes Wissen in Bronze“ und die Friedensmedaille. 1963 erhielt er beispielsweise einen Preis als vorbildlicher Helfer eines Komitees der Organisation freiwilliger Luftschutzhelfer, 1970 eine Urkunde zur 20-jährigen Zugehörigkeit zum Staatsapparat, 1978 die Verdienstmedaille der DDR, 1988 die Medaille für treue Pflichterfüllung in der Zivilverteidigung der DDR in Gold.
1984 ging Michel in Invalidenrente, weil ihn wieder mal eine Krankheit plagte, aber bis 1989 arbeitete er stundenweise weiter als Sachbearbeiter und als Standesbeamter. „Ich habe über 100 Männer und Frauen in Stolpen getraut“, sagt der 95-Jährige. Und gefeiert habe er immer gern, jedes Wochenende sei er auf Tanzveranstaltungen gewesen, vor allem im „Goldenen Löwen“, wo er nette Mädchen kennenlernte. Er selber war dreimal verheiratet – von der ersten Frau ließ er sich scheiden, weil sie ihn betrog, die zweite wurde krank, starb 1973, die dritte Frau starb 2010 nach 36 glücklichen Ehejahren. Eigene Kinder zeugte er nie, aber der Sohn und die Tochter, die seine dritte Frau mit in die Ehe brachte, sind für ihn seine Familie. Alle sechs Wochen besucht ihn die Tochter.
Auf die Frage, ob er als Bürgermeister bei der Kollektivierung der Landwirtschaft mitgeholfen habe, da braucht er einen Augenblick, um sich zu erinnern. „Ja, natürlich. Einmal war ich bei Bauer Kegel, der fragte mich, ob ich mit ihm Mittag essen möchte, aber ich meinte, ich wolle mit ihm über die LPG reden. Da gab es kein Mittagessen mehr.“ In der LPG „Einigkeit“ und der LPG „Einheit und Frieden“, da wären die Bauern drin gewesen, die schnell mitgemacht hätten, aber in der LPG „Blauer Basalt“ waren die letzten, die, die lange nicht wollten. Michel kümmerte sich als 2. Bürgermeister um die Wohnungspolitik der Stadt, um innere Angelegenheiten, die sozialistische Wehrerziehung, das Bildungswesen, Jugendfragen, um die Zivilverteidigung.
In einem braunen Hefter, der in seinem Schreibtisch lagert, da stehen alle Kommissionen der Stadt und die Namen der Mitglieder aus seiner Amtszeit drin: Finanzen, Bauwesen, Brandschutz, Wasserwirtschaft, sozialistischer Feierdienst, Kommission Geflügel und Eierproduktion, Revisionskommission. „Wir hatten immer zu tun. Der Rat des Kreises sagte uns ja, was wir machen sollten“, erklärt Michel. „Und es herrschte ein guter Zusammenhalt. Miteinander und Füreinander gibt es doch heute nicht mehr. Jeder wurschtelt vor sich hin.“
Er meint noch, dass Stolpen heute eine tote Stadt sei. Früher wäre hier immer was los gewesen, die Stolpner hielten zueinander. „Wir haben immer was organisiert, in jedem Haus am und um den Markt gab es ein Geschäft, da konnten die Busse noch reinfahren in die Stadt.“ Seine Freunde lägen alle auf dem Friedhof, er sehe aus dem Fenster nur noch fremde Leute. „Jetzt hocke ich alleine hier rum. Das macht keinen Spaß.“
Am Schluss seines Lebenslaufes steht: „Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass es zwischen meinen zwei lieben Geschwistern und mir stets ein gutes Verhältnis gab. Auftretende Meinungsverschiedenheiten wurden immer sachlich und ohne Zank und Streit gelöst.“ Vorletzter Satz: „Abschließend danke ich nochmals meinen lieben Eltern für alles Liebe und Gute, das sie für mich aufgebracht haben.“ Letzter Satz: „Am … habe ich die derzeit hässliche Welt der Gangster und Verbrecher verlassen.“
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